Was ist passiert?

 

Vor fast einem Jahr eskortierte eine Motorrad-Staffel den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán zum Stuttgarter Flughafen. Der Politiker hatte sich am Tag zuvor das EM-Spiel der ungarischen Nationalmannschaft angeschaut und wollte zurück nach Budapest. Doch es kam zu einem Unfall. Ein 61-jähriger Motorradpolizist wurde schwer verletzt und erlag später seinen Verletzungen. Ein weiterer Polizist erlitt schwere Verletzungen.

 

Wie Polizei und Staatsanwaltschaft damals berichteten, kollidierte die 69-jährige Autofahrerin am 24. Juni bei der Fahrt zum Flughafen mit dem Motorrad des 61-jährigen Beamten. Durch die Wucht des Aufpralls wurde das Motorrad des Polizisten gegen das Motorrad seines 27-jährigen Kollegen geschleudert, der den Kreuzungsbereich abgesperrt hatte. Der 61-Jährige starb, der 27-Jährige wurde schwer verletzt. Die Straße blieb mehrere Stunden lang gesperrt.

 

Nun hat die Staatsanwaltschaft am Amtsgericht Stuttgart Anklage wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung gegen die inzwischen 70-jährige Frau erhoben. Der Prozessauftakt ist für den 05.11.2025 angesetzt.

 

Zum Auftakt der Hauptverhandlung möchte die Verteidigung der Angeklagten auf wesentliche entlastende Umstände hinweisen, die aus der Akte und den bereits erhobenen Aussagen hervorgehen, in der öffentlichen Debatte jedoch bislang kaum Beachtung gefunden haben. Der Fall wurde bisher von einer einseitigen und oberflächlichen Berichterstattung begleitet. Ein Fehlverhalten der Polizei wird nicht einmal in Erwägung gezogen. Es entsteht der Eindruck, dass die Justiz von polizeilichem Versagen ablenken möchte. In der Angeklagten wurde ein geeigneter Sündenbock gefunden.

 

Unklare Polizeizeichen und zweifelhafte Rekonstruktionen

 

Nach Aktenlage verdichtet sich das Bild, dass sich der auf der Kreuzung eingesetzte Polizeibeamte nicht zentral im Kreuzungsbereich positionierte, sondern seitlich – teils in der Nähe des Fußgängerüberwegs – agierte und sich der Fahrtrichtung der Angeklagten erst sehr spät zuwandte. Mehrere Zeuginnen und Zeugen berichten übereinstimmend, dass ein eindeutiges Haltezeichen speziell gegenüber der Angeklagten erst erfolgte, als sie sich bereits im Kreuzungsbereich befand. Zuvor galt das Signal entweder anderen Verkehrsströmen oder der Beamte befand sich räumlich so, dass das Haltegebot aus Sicht der Angeklagten nicht erkennbar war. Das spät gegebene Zuruf-Signal ließ unter den konkreten Annäherungsbedingungen keine realistische Reaktionsmöglichkeit mehr zu. Diese Details sind für die Beurteilung der Sorgfaltspflicht von zentraler Bedeutung, jedoch wurden sie in der bisherigen öffentlichen Darstellung nur am Rande behandelt.

 

Ebenso ist festzuhalten, dass die Angeklagte – übereinstimmend mit mehreren Schilderungen – bei Grünlicht in die Kreuzung einfuhr und sich zuvor mit geringer Geschwindigkeit der Haltlinie näherte. Für die entscheidenden Sekunden wird eine Annäherungsgeschwindigkeit von etwa 15–25 km/h beschrieben. Unter diesen Umständen war ein plötzliches, verspätetes Haltezeichen aus einer seitlichen Position heraus objektiv schwer wahrnehmbar und, da sich das Fahrzeug bereits im Kreuzungsbereich befand, kaum noch befolgbar. Diese Umstände sind geeignet, einen Sorgfaltsverstoß zu verneinen oder diesen zumindest grundlegend anders zu bewerten, als es die Anklageschrift nahelegt.

 

Besondere Bedeutung misst die Verteidigung der bislang herangezogenen videotechnischen Nachstellung bei. Diese stellt den Beamten so dar, als habe er von Beginn an mittig auf der Kreuzung gestanden, der Angeklagten frontal gegenüber, und ihr fortlaufend ein Haltezeichen erteilt. Dieses Szenario deckt sich jedoch weder mit mehreren Zeugenaussagen noch mit der polizeilichen Skizze. Vor allem spiegelt es die Sicht der Angeklagten nicht realitätsnah wider. So wurde u. a. nicht aus der tatsächlichen Fahrersitzposition ihres konkreten Fahrzeugtyps rekonstruiert und typische Sichtschatten, etwa durch die A-Säule, blieben unberücksichtigt. Auch die Verwendung mittig montierter Dashcams anderer Fahrzeuge verfälscht die relevanten Blickachsen. Die Verteidigung hat deshalb die Einholung eines ergänzenden verkehrstechnischen Gutachtens beantragt, das ausschließlich die Sichtverhältnisse der Angeklagten in ihrer konkreten Position zum Maßstab nimmt.

 

Rechtliche Bewertung und offene Beweisfragen

 

Ein alleiniges Blaulicht begründet ohne zusätzliches Einsatzhorn kein Wegerecht und ersetzt kein individuell erkennbares Haltegebot. Zwar gehen polizeiliche Weisungen allen anderen Anordnungen vor, sie müssen aber in Person, Richtung und Zeitpunkt gegenüber dem betroffenen Verkehrsteilnehmer hinreichend eindeutig „ankommen“. Fehlt es an einer erkennbaren, rechtzeitig bekanntgegebenen Weisung, darf bei Grün in die Kreuzung eingefahren werden – mit besonderer Vorsicht, aber ohne generelles Anhaltegebot. Nach Aktenlage war für die Angeklagte kein klares, frühzeitiges Haltezeichen auszumachen.

 

Hinzu kommen Hinweise aus dem Umfeld der Kreuzung. Demnach nahmen Anwohnende und Verkehrsteilnehmende kurz vor dem Ereignis teils keine Absperrung wahr. Zudem ordneten sich weitere Fahrzeuge regulär auf der Linksabbiegespur ein und der Beamte richtete seine Aufmerksamkeit vorrangig auf den querenden Verkehr. Auch daraus ergibt sich, dass eine vollständige Sperrung der Kreuzung aus der maßgeblichen Perspektive nicht zweifelsfrei erkennbar war. Die Verteidigung hat insoweit Beweisanträge auf Vernehmung weiterer Zeuginnen und Zeugen gestellt, um diese Wahrnehmungen gerichtlich zu klären.

 

Schließlich ist die Geschwindigkeit des verunglückten Polizeimotorrads ein weiterer, bislang unterschätzter Faktor. Laut dem bisherigen Gutachten fuhr das Motorrad innerorts mit rund 70 km/h. Es ist aufzuklären, ob der Unfall bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit vermeidbar gewesen wäre, beispielsweise durch rechtzeitiges Abbremsen, Ausweichen oder eine zeitliche Entzerrung der räumlichen Konfliktlage. Auch dazu hat die Verteidigung die Einholung eines ergänzenden Gutachtens beantragt. Diese Fragen sind nicht Ausdruck von Schuldzuweisungen, sondern notwendiger Bestandteil einer fairen und umfassenden Aufklärung.

 

Die Verteidigung verbindet diese Hinweise mit ausdrücklichem Respekt vor dem Leid der Hinterbliebenen und Betroffenen. Zugleich bittet sie Medien und Öffentlichkeit, die Unschuldsvermutung zu achten, die dargestellten Entlastungstatsachen in der weiteren Berichterstattung zu berücksichtigen und die Anonymität der Angeklagten sowie nichtamtlicher Zeuginnen und Zeugen zu wahren. Die genannten Punkte entstammen der bereits beim Gericht eingereichten ausführlichen Stellungnahme einschließlich Beweisanträgen und werden in der Hauptverhandlung – offen, überprüfbar und unter sachverständiger Begleitung – erörtert werden. Für Rückfragen steht die Verteidigung zur Verfügung.